Mutig im Alter
In meiner Ausbildungsgruppe
war ich mit meinen damals 38 Jahren fast der Jüngste.
Viele der 30 Teilnehmer und Teilnehmerinnen waren zwischen
50 und 60, einige zwischen 60 und 70 und auch über 70 Jahre
alt. Die Ausbildung dauerte 4 Jahre und teilte sich in einen
pädagogischen und einen therapeutischen Teil auf. Sie war,
neben der notwendigen Theorie, bestimmt von viel praktischer
Arbeit mit sich selbst, immer begleitet von 2 Mitschülern.
So habe ich mich in dieser Zeit mit all meinen Wünschen,
Ängsten, verdrängten Anteilen und daraus entstehenden Nöten
sehr gut kennengelernt. Gedanken und Verhaltensweisen hatten
auf einmal einen Ursprung, viele meiner alten seelischen
Wunden und Verletzungen wurden auf eine liebevolle Art und
Weise geheilt. Das gleiche habe ich natürlich auch bei
meinen Kollegen beobachtet und war oft Begleiter von schönen
und heilenden seelischen Prozessen.
Eines hat mich damals erstaunt und sich in meiner
freiberuflichen Arbeit doch weiter bestätigt: Egal, wie alt
man auch ist, so sind die seelischen Wunden und die dahinter
liegenden Bedürfnisse oft verbunden mit den eigenen Eltern
und dem, was ich als Kind erlebt habe, was mir als Kind
Angst gemacht hat und was mir als Kind von meinen Eltern
gefehlt hat.
All‘ das tragen wir wie in einem unsichtbaren Rucksack mit
uns herum. Dazu kommen dann noch die unverarbeiteten
Erlebnisse des Lebens, z.B. Schicksalsschläge,
Familienstreitigkeiten, Kriegs- oder Nachkriegserlebnisse,
eigene Fehlschläge oder Handlungen nur den Anderen zu Liebe.
Das alles wirkt sich dann unweigerlich auf unser jetziges
Leben aus, macht uns manchmal mürrisch oder unausgeglichen,
drückt sich oft in körperlichen Schmerzen aus oder beschert
uns psychische Probleme.
Nicht selten werden die Auswirkungen mit zunehmendem Alter
größer, vielleicht weil einfach nicht mehr so viel Zeit für
die Bearbeitung bleibt.
Das, was ich an meinen älteren Kollegen anfangs so
erstaunlich wie mutig fand, war diese Lust, sich in
fortgeschrittenem Alter mit sich selbst und seinen
seelischen Wunden zu beschäftigen, sich den Verletzungen des
ganzen Lebens zu stellen, um sie schlussendlich zu heilen.
Der Lohn dafür und das kann ich für alle die sich mutig sich
selbst stellen ausnahmslos bestätigen, ist ein glücklicheres
und leichteres Leben. Und dabei spielt es keine Rolle,
welches Alter im Ausweis steht. Entscheidend ist die Lust
und die Freude auf sich selbst, auf einer Entdeckungsreise
zu seinem wirklichen Ich.
„Werde was Du bist“ heißt ein Satz der Psychosynthese, und
meint damit, sich an den Kern des eigenen Wesens vorzuwagen,
um jenseits aller von außen gestalteten Prägungen sein Leben
so zu leben, wie es für jeden Einzelnen von uns vorgesehen
ist.
Schwierig ist dabei oft nur der erste Schritt, die
Entscheidung. Der Rest läuft dann meist leichter und
erfüllter als Sie sich vielleicht denken. Seien Sie mutig,
egal in welchem Alter.
Denn: man kann das Leben nur vorwärts leben...
Ihr
Frank Schult
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